(ps) Es war ein durchwachsener Apriltag mit Sonne und Wolken, an dem die Stiftung Handschrift im Museum Wiesbaden die hessischen Schüler*innen anläßlich des 6. Schülerschreibwettbewerbs ehrte. „Freundschaft“ war das Thema, und viele inspirierende Beiträge wurden eingereicht. Doch bei der Veranstaltung ging es nicht nur um die Beiträge – es ging explizit auch darum, dass sie von Hand geschrieben wurden. In seiner Festrede zur Siegerehrung hebt der Hessische Kultusminister Armin Schwarz hervor, dass die Schrift, die Handschrift „eine unserer ältesten Kulturtechniken“ sei. Christian Boehringer, Vorsitzender des Stiftungsrates, ergänzt, die Handschrift habe auch positiven Einfluß auf den Lernerfolg: „Denn wer Lerninhalte mit der Hand mitschreiben kann, versteht und behält diese besser.“
Handschrift – für manche ist das eine beinahe überflüssige Fähigkeit im Zeitalter der Digitalisierung. Je nach Beruf muß nach der Schule selten mehr als der eigene Name und die Adresse noch mal handschriftlich verfaßt werden, denn selbst für den Einkaufszettel gibt es schließlich schon Apps. Und an den Schulen halten Tablets und Computer Einzug, was gekonntes Tippen an der Tastatur ohnehin viel wichtiger macht.
Schreib- und Motorik-Defizite
Wie passend, könnte man sich da denken, weil vielen Kindern zum Schuleintritt ohnehin die feinmotorischen Fähigkeiten fehlen, ordentlich zu schreiben. Und das nicht erst seit gestern: bereits 2014 sagte die Nürnberger Bildungsforscherin Stephanie Müller der Nachrichtenagentur dpa, etwa 70 Prozent der Erstklässler*innen brächten „nicht mehr die nötigen motorischen Voraussetzungen“ mit, um erfolgreich schreiben zu lernen. Ein Befund, an dem sich nicht viel verändert hat. Etwa die STEP-Studie 2022 zeigte neuerlich große Defizite der Schüler*innen bei der Handschrift bzw. beim Handschreiben auf. Die befragten Lehrkräfte sprachen sich angesichts der Probleme dafür aus, kontinuierlich, auch nach der Grundschule, Schreibtraining im Lehrplan zu verankern, sowie Schreib- und Feinmotorik-Trainings für Schüler*innen einzuführen. Ein weiteres schwerwiegendes Problem: lediglich ein Drittel der Grundschullehrer*innen gab an, während der Ausbildung „genügend Wissen über die Vermittlung des Handschreibens erworben“ zu haben. Zum Problem der Schüler*innen gesellt sich also auch ein Ausbildungsproblem seitens der Lehrkräfte.
Lösung des Grundschulverbandes: „Grundschrift“
Den Grundschulverband e.V. hat dies alles schon 2005 dazu bewogen, die Einführung einer neuen Schrift zu forcieren, der sogenannten „Grundschrift“. Seit 2011 ist sie in manchen Bundesländern eingeführt. Diese Druckschrift mit ein paar zusätzlichen Häckchen solle nach Willen des Verbandes die alleinige Schrift sein die an Schulen gelehrt wird. Denn mit der verbundenen Schreibschrift müssten die Schüler*innen schließlich zweimal schreiben lernen – was viel Zeit raube, Frust bei den Schüler*innen auslöse und letztlich nur ein heute überflüssiges Kulturrelikt abschaffe, einen „unnötige[n] Umweg auf dem Weg zu einer leserlichen, flüssig geschriebenen und individuellen Schreibschrift“, so der Pädagoge Horst Bartnitzky für den Grundschulverband e.V. Eine zweite Ausgangsschrift sei vielmehr „unnötig“ und verzögere sogar die Schriftentwicklung der Kinder. Zudem würden erfahrene Schreiber sich an den Druckbuchstaben orientieren und nur teilweise verbunden schreiben – wieso also der Umweg?
Zugleich wird die sogenannte „Gegenseite“ (so formuliert Birgit Mesch von der PH Heidelberg) diffamiert und ihre Argumente als „eher dürftig“ hingestellt. Als Beleg hierfür wird alleinig das Baden-Württembergische Kultusministerium angeführt, welches gerne wissenschaftliche Evidenzen hätte, bevor ein etabliertes System umgeworfen wird. Dabei ist besonders interessant, dass die Studie von Mesch et al., die angetreten sind, um die Überlegenheit der „Grundschrift“ zu beweisen, selbst kaum signifikante Vorteile finden kann – aber dazu später. Interessant ist ferner eine gewisse selektive Wahrnehmung der Forschungsergebnisse. So wird auf dem „Schulportal“ behauptet, die verbundene Schreibschrift brächte „aus der Sicht der Wissenschaft wenig“ – aber auch dazu später mehr.
Schreibschrift vs. „Grundschrift“ vs. Tastatur
Im Diskurs über die Alphabetisierung der Grundschüler*innen gibt es neben der „Grundschrift“ auch noch einen anderen Kandidaten, der vermehrt Avancen macht – die Tastatur. So werde laut „Schulportal“ debattiert, „ob es nicht sinnvoller wäre, in der Grundschule zunächst das Schreiben mit der Tastatur zu erlernen“ – da die Kinder schon vor der Schule Erfahrungen mit Tastaturen sammeln würden und „gerade wenn die Feinmotorik noch nicht so ausgeprägt ist“ dieser Zugang einfacher sei. Ungehört verhallen hier die Wünsche der Lehrkräfte (übrigens auch der Sportlehrkräfte) nach Motorik-Trainings und die Mahnungen der Neurologen, die auf vielfältige Lernzusammenhänge im Gehirn in Abhängigkeit von motorischen Übungen und Fähigkeiten verweisen. Bislang aber kann sich diese Forderung noch nicht breitenwirksam durchsetzen. Dennoch wird gefordert, auch den Grundschüler*innen bereits das Tippen beizubringen – wofür offenbar plötzlich Zeit im Unterricht ist, die für die Schreibschrift aber zu fehlen scheint.
Nicht mal die Tatsache, dass seitens der Forschung ein klares Argument für die Handschrift (ob Schreib- oder Druckschrift bzw. „Grundschrift“) gemacht wird, ist also bei allen Diskutanten angekommen. Dabei ist die Forschungslage dazu eindeutig. Allein bei der Frage, ob Schreib- und Druckschrift dieselben positiven Effekte zeitigen, bestehen Restunsicherheiten – allerdings gibt es auch hier Erkenntnisse, die die Schreibschrift bevorzugen.
Forschungsstand eindeutig
Sehr deutlich sieht die Lage bei der Frage nach Handschrift (allgemein) vs. Tastatur aus – sowohl beim Schrifterwerb, als auch bei Nutzen für Schüler*innen und Studierende. Erst jüngst haben Forscher*innen der Norwegischen Universität für Naturwissenschaften und Technologie (NTNU) in Trondheim beforscht, ob „der Prozess der Buchstabenbildung per Hand tatsächlich zu einer besseren Gehirnkonnektivität führt“, also umgangssprachlich zu besseren Verknüpfungen im Gehirn. Die Forscher*innen zeigen sich vom Ergebnis überzeugt: „Wir zeigen, dass beim Schreiben mit der Hand die Konnektivitätsmuster des Gehirns weitaus ausgefeilter sind als beim Schreiben mit der Maschine auf einer Tastatur“, sagt die an der Studie beteiligte Audrey van der Meer. Eine solch umfassende Verknüpfung der Neuronen im Gehirn sei entscheidend dafür, sich Inhalte und Muster zu merken und neue Informationen abzuspeichern, berichtet sie dem Wissensmagazin Scienexx. „Die Handschrift sei daher für das Lernen klar von Vorteil“, heißt es dort.
Van der Meer zählt zu den führenden Neurowissenschaftler*innen auf diesem Themengebiet und forscht hier schon seit Jahren. Bereits 2017 und 2020 hat sie mit unterschiedlichen Fragestellungen und unterschiedlichen Testgruppen (Studierende, Schüler*innen) zum Thema veröffentlicht und kommt auf konsistente Ergebnisse. 2020 ging es um die Qualität beim Anfertigen von Notizen über präsentierte Inhalte, entweder händisch oder getippt. Dabei stellte sie fest, dass bei handschriftlichen Notizen jene Teile des Gehirns besonders aktiv waren, die für die Verarbeitung neuer Informationen und die Erinnerung zuständig sind – deutlich aktiver, als beim tippen von Notizen. Daher böte handschriftliches Arbeiten dem Gehirn optimale Lernbedingungen. Ihre Empfehlung: Kinder vom frühen Alter an mit der Handschrift arbeiten lassen um das Lernen zu optimieren.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie von der Psychologin Pam Mueller von der Princeton University gemeinsam mit Daniel Oppenheimer. Sie zeigt schon 2014, dass sich Handschrift bzw. handschriftliche Notizen auch auf das Verständnis der notierten Inhalten auswirkt: ihre Untersuchungen weisen nach, dass Proband*innen, die handschriftliche Notizen machen, die Inhalte besser durchdringen als die Vergleichsgruppe, die mit Laptops Notizen macht. Diese Ergebnisse reiht sich ein in eine lange Liste von Studien, Lernleistungserhebungen und Umfragen, die alle in dieselbe Richtung zeigen. Und das geht bereits beim Lernen der Buchstaben selbst los: Bereits 2005 konnte Neurowissenschaftlerin Marieke Longcamp, ebenfalls eine Koryphäe auf dem Gebiet, nachweisen, dass Handschrift das Lernen von Buchstaben verbessert – was 2012 von der Hirnforscherin Karin James und 2015 in einer Studie von Markus Kiefer et al. bestätigt wurde. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist jedenfalls eindeutig: das Erlernen einer und das Lernen mit Handschrift zeitigt eine Reihe positiver Effekte: das Gehirn wird stärker angeregt, das Einprägen der Buchstaben beim Schrifterwerb wird bei Handschrift begünstigt, und die Erinnerungsleistung an handschriftliche Notizen, sowie deren Qualität ist jener mit Tastatur signifikant überlegen.
Kritik an der Schreibschrift berechtigt?
Trotz dieser klaren Forschungslage ist das Lernen von verbundenen Handschriften wie die Lateinische oder die Verbundene Ausgangsschrift an Schulen nicht mehr so selbstverständlich. Während es früher sogar Unterrichtseinheiten für „Schönschrift“ gab, wird heute an manchen Schulen die Schreibschrift gar nicht mehr gelehrt. Sie wird in manchen Bundesländern bereits heute ersetzt durch die ungebundene „Grundschrift“. Gemäß des vom Grundschulverband 2010 erstmals vorgelegten Konzepts sollen die Schüler*innen mithilfe dieser „Grundschrift“ selbstständig gebundenes Schreiben entwickeln und damit auf die Lernunterbrechung durch das Erlernen einer zweiten Schrift verzichten können. Ob und wie gut dieses Konzept trägt, ist trotz diverser Jahre im Einsatz noch immer sehr umstritten.
2016, als Finnland die Schreibschrift abschaffte, flammte auch hierzulande die Debatte erneut hoch. In der t.a.z. beklagte die Hildesheimer Germanistik-Didaktikerin Ursula Bredel, vor Einführung einer neuen Schrift brauche es „ein wissenschaftlich gut begleitetes Pilotprojekt, mit Kontroll- und Experimentalgruppen, bei denen man testet, wie sich die Schreibkompetenz über einen längeren Zeitraum entwickelt“. Auch Wilfried Bos, Professor für Schulentwicklungsforschung in Dortmund, zeigte sich dort empört – ihn „regt es ziemlich auf, dass wir didaktische Entscheidungen, die möglicherweise von großer Bedeutung für das spätere Leben vieler Kinder sind, ohne ausreichende empirische Grundlage treffen“.
Bezeichnenderweise fällt es selbst Befürworter*innen der „Grundschrift“ schwer, triftige Argumente für sie zu finden. 2019 veröffentlichten Birgit Mesch et al. eine Querschnittsstudie zur Frage der „Effekte der Handschrift auf die Leserlichkeit und Schreibkompetenz“. Obschon sie mit der Hypothese bzw. der Erwartung angetreten sind, dass die „Grundschrift“ den Alternativen überlegen sei – sogar bis hin zur Kreativität beim Schreiben –, zeigen ihre Forschungsergebnisse keinen klaren Vorteil der „Grundschrift“. Sie können sich lediglich damit retten, die „Grundschrift“ habe „immerhin zu einem einheitlicheren und besser leserlichen Schriftbild geführt“. Aber hier, wie bei einigen weiteren Punkten, scheint das Geschlecht der Probanden deutlich schwerer zu wiegen als die Frage „Grundschrift oder nicht“ – so räumen sie dann eine „deutliche Überlegenheit der Schülerinnen gegenüber den Schülern“ ein, was auch die einzige „deutliche Überlegenheit“ von irgendwas in dieser Studie war.
Als hätten die Leser*innen die Studie nicht gelesen, behauptet Mesch in der Auswertung, die Argumente für die „Grundschrift“ seien „wenn auch nicht (alle) bewiesen, so doch zumindest weiterhin plausibel.“ Dabei hat sie zwei Seiten zuvor feststellen müssen, dass von den sieben behandelten Detailfragen, die eben die „Grundschrift“ als überlegen zeigen sollten, keine einzige vollumfänglich oder eindeutig für die „Grundschrift“ spricht.
Ein relevanter Aspekt ist hierbei die Verbundenheit der Schrift, die naturgemäß bei der Schreibschrift höher ist. Der Grundschulverband argumentiert, dass auch die „Grundschrift“ zu einer verbundenen Schrift führe – was bei Mesch ebenfalls nicht aufgezeigt werden konnte. Vielmehr bliebe die höhere Unverbundenheit bei der „Grundschrift“ „klassenunabhängig und inferenzstatistisch signifikant“. Doch während der Grundschulverband die Verbundenheit der Wörter allgemein als Relikt „aus der Zeit des leicht klecksenden Federkiels“ – und damit eigentlich überflüssig – darstellt, zeigt auch hier die Forschung praktisch das Gegenteil auf. Bereits in einer noch heute einflußreichen Studie von 1976 konnte George H. Early aufzeigen, dass verbundene Wörter der Schreibschrift als „vollständige Gedankeneinheit“ funktionieren, was bei Druckschrift nicht der Fall sei. Diese Sichtweise wird auch heute noch vertreten, etwa von Virginia Berninger von der University of Washington.
Schreibschrift gegen Legasthenie
Berninger argumentiert noch weiter: gerade die verbundene Schreibschrift könne dabei helfen, Legasthenie zu bessern – weil die verbundenen Wörter eben jene „Einheit“ erzeugen, die motorisch automatisiert werden. Early argumentiert, dass diese Worteinheiten auch mit der Art unseres Denkens korrespondieren, also gewissermaßen ein besser mit unserem Gehirn in Einklang zu bringendes Schriftprodukt seien – und verbundene Schrift ein „kinästhetisches Feedback“, also Feedback im motorischen Gedächtnis, bei der Bewegungsempfindung, auslösen. Bei nicht oder wenig verbundenem Schreiben wird dagegen jedes Wort dauerhaft bzw. immer wieder aus Einzelelementen zusammengesetzt, motorisches Lernen findet also nicht bzw. vergleichsweise wenig statt. Auch dies ist eine Position, die von verschiedenen Forscher*innen und Fachstellen wie der British Dyslexia Association geteilt wird. Ebenfalls gebe es Hinweise, dass verbundene Schreibschrift bei verwandten Problemen wie Alexie und Dysgraphie helfen kann.
Studien aus England legen nahe, dass die verbundene Schreibschrift nicht nur auch gelehrt werden sollte, sondern vielmehr die Erstschrift sein sollte, die Schüler*innen lernen – nicht nur, um Legastheniker*innen zu unterstützen, sondern auch allgemein: Schreibschrift als Erstschrift sei überaus erfolgreich darin, schulische Schreibziele schneller und für eine größere Gruppe von Schüler*innen zu erreichen, als mit unverbundener Druckschrift. Mithin entfällt so auch ein weiterer Kritikpunkt des Grundschulverbandes, nämlich, dass mit der sekundären Einführung der Schreibschrift eine unnötige Lernunterbrechung entstünde. Die Druck- als Erstschrift hat sich in Deutschland auch erst in den 1990er Jahren relativ flächendeckend durchgesetzt, ist also, um den Grundschulverband zu spiegeln, ebenfalls kein erhaltenswertes Kulturgut, das es zu schützen gelte. Im Sinne einer inklusionsorientierten Alphabetisierung wäre also die Schreibschrift als Erstschrift eher sinnvoll als umgekehrt, und die Abschaffung der Schreibschrift ein Beitrag zur Verschlechterung der Lage von Legastheniker*innen.
Schreibschrift als Kognitions- und Motoriktraining
Ein Problem der heutigen Grundschüler*innen sei es gemäß der Nürnberger Bildungsforscherin Stephanie Müller, dass „fehlende Fingerfertigkeit, zu wenig Bewegung, moderne Geräte wie Tablet-PCs und Smartphones“ bei „etwa 70 Prozent der Erstklässler Schreibprobleme“ verursachen, wie sie der dpa berichtet. Faktisch ist damit für die Grundschüler*innen die „Grundschrift“ einfacher umzusetzen. Damit würde man jedoch, ähnlich wie bei der Rechtschreibreform (die ja bekanntlich u.a. deshalb kam, weil die Schüler*innen zu viele Fehler machten), das niedrigste Niveau als Standard setzen – anstatt das grassierende (Fein-)Motorikproblem der Schüler*innen zu adressieren und auf mehr Förderung zu setzen.
Die National Association of State Boards of Education (NASBE) aus den USA kam dagegen bereits 2012 in einem Statement zur dort auch geführten Handschrift-Debatte zum Ergebnis – im Einklang mit den Neurowissenschaften –, dass guter Schreibunterricht kognitive und feinmotorische Trainingseinheiten darstellen, die die Schüler*innen in der weiteren Entwicklung positiv beeinflussen. Die dort auch zitierte Virginia Berninger ergänzt, dass speziell Schreibschrift Gehirnbereiche für Selbstkontrolle und mentale Organisation aktiviere. Mit Blick auf die zunehmend unausgelastete und aggressiver werdende Jugend durchaus ein wünschenswertes Training.
Marianela Diaz Meyer, Ergonomie-Expertin und Leiterin des Schreibmotorik-Instituts in Heroldsberg, weist ebenfalls auf Effekte im Gehirn hin: seitens der neurologischen Forschung „wurde herausgefunden in einer Metaanalyse in 2013, dass 12 Gehirnareale beim Handschreiben aktiviert werden. Und beim Handschreiben werden auch Spuren im Gehirn abgelegt und die können abgerufen werden, wenn die Kinder zum Beispiel die Buchstaben wiedererkennen sollen, aber auch bei Erwachsenen, wenn sie sich etwas merken sollen oder wenn sie etwas verarbeiten“, berichtet sie dem Deutschlandfunk. Forschungen aus den USA zeigen ferner, dass auch die Verknüpfungen zwischen den Gehirnhälften spezifisch bei Schreibschrift gefördert werde, was sich positiv auf Ideenfindung und Kreativität auswirkt. Diese Verknüpfungesförderung gebe es beim Schreiben mit Druckbuchstaben (oder gar Tastatur) nicht.
Kultureller Bruch durch Druckschrift?
Ein letztes Argument der von Mesch so bezeichneten „Gegenseite“ betrifft schließlich noch die Kultur, in der wir leben: Verschiedentlich wurde hervorgebracht, dass die Abschaffung der Schreibschrift auch einen kulturellen Bruch auf verschiedenen Ebenen auslösen würde. Angefangen damit, dass die Kinder von heute dann morgen nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten noch handschriftliche Dokumente aus der Zeit der Schreibschrift lesen könnten. Als etwas indiskrete Beispiele für Alltagsquellen wurden da das Tagebuch der Oma und die Liebesbriefe der Eltern genannt, kann aber für die heute in „Grundschrift“ unterrichteten Schüler*innen auch schon dazu führen, die Einkaufszettel der Eltern nicht mehr richtig lesen zu können. Aber auch die historische, sprachwissenschaftliche oder biographische Forschung (und alle anderen Forschungsbereiche, in denen handschriftliche Quellen rezipiert werden) würde hier von den Schüler*innen abgeschnitten werden. Wenn beispielsweise ein*e Abiturient*in sich im Studium nicht nur mit Vorläuferformen der heutigen Schreibschriften auseinandersetzen, sondern erstmal überhaupt Schreibschrift lesen und schreiben lernen muß, entsteht eine zusätzliche Bildungshürde.
Druckschrift: Nordamerika rudert zurück
Es ist strukturell ein Phänomen, dass sich häufiger zeigt: Deutschland verschläft einen Trend und fängt mit dessen Einführung an, wenn andere Ländern den Trend als Holzweg erkannt haben und ihn gerade abschaffen. So gesehen mit der Digitalisierung: Schweden hat höchst erfolgreich seine Schulen digitalisiert, nun klagt die Regierung, die „Lernkompetenz gehe stark zurück“ – und führt wieder Bücher ein, während Deutschland mit der Digitalisierung gerade beginnt. Und so auch mit der Handschrift: in den USA, Kanada und Großbritannien wurde schon vor Jahrzehnten die Schreibschrift zugunsten der Druckschrift zurückgedrängt oder gänzlich abgeschafft. In den vergangenen Jahren allerdings rudern die Staaten wieder zurück – zuletzt Kalifornien, wo 2024 die Schreibschrift gesetzlich bindend wieder ins Curriculum aufgenommen wurde, nachdem man sie 2010 von dort verbannte.
Was noch zu schreiben ist – Rück- und Ausblick
So wundert es nicht, dass von den Argumenten des Grundschulverbandes bei Licht betrachtet nicht viel übrig bleibt – allein bis auf die Erkenntnis, dass sowohl der primäre Schrifterwerb, als auch das spätere Schreibtraining deutlich mehr Aufmerksamkeit im Curriculum benötigen.
Völlig klar ist jedenfalls, dass das Tippen an Tastaturen jeder Form der Handschrift unterlegen ist. Obgleich Tippen heute eine relevante Kulturtechnik ist, sollte sie keinesfalls als Schrifterwerbstechnik Verwendung finden, und auch nicht vor Erwerb einer stabilen Handschrift. Es läßt sich zudem die Frage stellen, ob Tippen als Lernziel wirklich in den Unterricht gehört oder ob es nicht besser bei nachmittäglichen Schulangeboten wie AG’s aufgehoben wäre.
Teilweise wird sogar nahegelegt, Schreibtraining auch an den weiterführenden Schulen beizubehalten. Hier hätten Schüler*innen wie Studierende einen zusätzlichen Nutzen: wer geübt schreiben kann nutzt die Handschrift auch eher – und wird bei Unterrichts- und Studiennotizen im Vorteil gegenüber ihren tippenden Kamerad*innen sein.
Die „Grundschrift“ ist nachweislich – inklusive der Forschungen, die sie propagieren – nicht nennenswert besser, als die gängigen Alternativen. Vielmehr gibt es aus der Neurologie Hinweise darauf, dass die Schreibschrift als Erstschrift besser wäre. Die Behauptung, dass „Grundschrift“-Schreibende von alleine zu einer angemessen verbundenen Schrift kämen, erhärtet sich nicht. Und das Argument, dass erfahrene Schreibende ebenfalls auf manchen Druckbuchstaben zurückgreifen, mag eher mit der Tatsache zusammenhängen, dass derzeit die Druckschrift die Erstschrift ist (die entwicklungspsychologisch gesehen also tiefer verankert ist als die Zweitschrift), und nicht damit, dass Druckbuchstaben besser wären.
Die Idee, dass eine einfachere, unverbundene Schrift bei den Schreibenden „die höchste Erzählkompetenz erwartbar“ mache (Mesch), hat sich nicht erhärtet, und auch die Rechtschreibung zeigt keine Unterschiede. Ebenso hat die Studie keine neurologischen Forschungen eingebunden und den motorischen Schreibprozeß nicht untersucht.
Dagegen hilft die Schreibschrift Legasthenikern, trainiert das Gehirn, fördert Selbstkontrolle, und führt als Erstschrift sogar zu einer schnelleren Erlangung der Schreibfähigkeit für eine größere Gruppe an Schüler*innen. Dies zeigte sich, wie erwähnt, in Großbritannien, kommt heute aber in Deutschland bedauerlicherweise nur vereinzelt, etwa an Waldorfschulen, vor.
Auch die Resonanz vieler Lehrkräfte, Bildungsgewerkschaften und weiteren Bildungseinrichtungen ist heute noch eher ablehnend. Die Bildungsgewerkschaft im dbb Rheinland-Pfalz konstatiert beispielsweise 2019: „Während es keine Gründe für eine Abkehr von der bewährten Schreibschrift gibt, wiegen die Argumente gegen die Grundschrift schwer.“
Warum also die „Grundschrift“? Ute Andresen, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, äußerte schon zur Einführung 2011 einen Verdacht: „Der Grundschulverband vertritt keine pädagogischen Interessen“, schrieb sie in der t.a.z., und verweist darauf, dass die „Grundschrift“ wirtschaftliche Interessen bediene – in der Anfertigung und auch mit dem Neukauf von Lehrmaterialien.
Auf eines dürften sich jedoch vermutlich alle Beteiligten einigen können: Schriftdidaktik benötigt sowohl im Lehramtsstudium, als auch an den Schulen mehr Raum.
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24.04.2024