(ps) Erst im vergangenen Jahr gab es eine hitzig geführte Debatte um die Zahlen zum Lehrermangel: Die KMK teilte mit, es würden 14.000 Lehrkräfte bis 2030 fehlen. Eine erstaunlich niedrige Zahl, die Skepsis in der Fachöffentlichkeit auslöste. Der Bildungsforscher Prof. Klaus Klemm hat die Zahlen überprüft und kommt auf 81.000 fehlende Lehrkräfte, ein Unterschied von knapp 480 Prozent. Damit habe sich, so die Kritik, die KMK zum wiederholten Male die Zahlen schön gerechnet. Tatsächlich kommt es regelmäßig zu Kontroversen um die KMK-Zahlen, und nicht nur Prof. Klemm und der VBE, auch andere renommierte Einrichtungen wie bspw. die Bertelsmann-Stiftung haben die Zahlen der KMK schon als deutlich zu konservativ kritisiert. Udo Beckmann, 2022 Bundespräsident des VBE, bezeichnete die Angaben der KMK als „eher unseriös“. Sie würden den tatsächlich Bedarf regelrecht „verschleiern“ – „die Situation ist also viel dramatischer, als von der Kultusministerkonferenz kommuniziert“, so Beckmann.
Tatsächlich liegt beim Lehramt einiges im Argen: Es geht bereits mit den Studienplätzen los, die sich noch einer großen Nachfrage erfreuen, aber insgesamt viel zu rar sind. An einigen Universitäten gibt es daher schon NCs die im Einser-Bereich liegen. Wurde das Studium geschafft – Abbrecherquoten liegen bei 16 Prozent – schlagen sich die Arbeitsbedingungen nieder: Laut einer Studie von Forschenden der Uni Halle-Wittenberg haben etwa ein Viertel der angehenden (!) Lehrkräfte bereits Burnout-Symptome, ein weiteres Drittel verlässt die Schule binnen fünf Jahren. Wer die ersten Jahre übersteht, hat aber auch im weiteren Verlauf ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme – Burnout und Depressionen sind im Berufsvergleich häufig, auch Teilzeit und Frührente sind oft Ausdruck dieser Belastungen. Prof. Uwe Schaarschmidt hat in seiner vielbeachteten „Potsdamer Studie zur Lehrerbelastung“ konstatiert, „dass Lehrer*innen einen der – hinsichtlich der psychischen Belastung – anstrengendsten Berufe ausüben.“
Nun hat die KMK, die von Helmut Kohl mal als die „reaktionärste Einrichtung Deutschlands“ bezeichnet wurde, von ihrem wissenschaftlichen Beratergremium Vorschläge zum Umgang mit dem Lehrkräftemangel erarbeiten lassen. Die sechs zentralen Empfehlungen lauten: „Erschließung von Beschäftigungsreserven“ (u.a. späteres Rentenalter, weniger Teilzeit, mehr Unterrichtsstunden pro Lehrkraft), Weiter- und Nachqualifizierung, Unterstützung der Lehrkräfte durch z.B. Studierende, „Flexibilisierung“ (u.a. Schließung dörflicher Schulen, mehr Schüler*innen pro Klasse, mehr „Selbstlernzeiten“), Gesundheitsförderung (z.B. „Achtsamkeits“- und „Kompetenztraining“ für Lehrkräfte), sowie die Evaluation und Entwicklung von Quer- und Seiteneinsteigerprogrammen.
Vor dem Hintergrund der bereits schwierigen Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte werden diese Empfehlungen auf breiter Front als „Hohn“ wahrgenommen. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes wird von der ARD mit den Worten zitiert: „Wer Teilzeit und Altersermäßigungen einschränken oder abschaffen will, treibt noch mehr Lehrkräfte in die Frühpensionierung und den Burnout.“ Die Maßnahmen seien „kontraproduktiv“. Auch Maike Finnern, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht in den Vorschlägen lediglich einen „Ausdruck der Hilfslosigkeit“ und bezeichnet Maßnahmen wie „Achtsamkeitstraining“ im Angesicht der psychischen Belastungen als „blanken Hohn“. Der VBE Schleswig-Holstein hält es für „geradezu absurd, dass durch Verschlechterungen in den Arbeitsbedingungen erfolgreich für den Lehrerberuf geworben werden soll.“ Der Sächsische Lehrerverband sieht es als „Affront gegen die sächsischen Lehrkräfte, die mittlerweile seit Jahren an der Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeiten“. Der Thüringer Philologenverband ergänzt, dass durch derlei Maßnahmen lediglich mit einer weiteren Erhöhung der Krankenzahlen zu rechnen sei.
Dabei ist es bezeichnend, dass die KMK-Vorschläge streckenweise einfach das genaue Gegenteil der bisherigen Vorschläge sind – z.B. hat die GEW schon im vergangenen Jahr ein 15-Punkte-Programm vorgeschlagen, u.a.: „Senkung der Arbeitszeit, kleinere Klassen, mehr Ausgleichsstunden“. Weiterhin brauche es mehr Unterstützungskräfte an Schulen wie Sozialpädagog*innen oder Psycholog*innen, mehr Verwaltungskräfte, mehr Studienplätze für das Lehramt, eine bessere Schulausstattung sowie bessere Bezahlung der Lehrkräfte. Nur ein Schelm würde bemerken, dass diese Vorschläge deutlich teurer sind als jene der KMK.
Vergleichbare Vorschläge werden aber auch schon seit Jahren gemacht. Es herrscht offenbar ein chronisches Umsetzungsdefizit beim Problem des Lehrkräftemangels, kein Ideendefizit. So verwundert es auch nicht, wenn etwa der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte die KMK-Vorschläge wahrnimmt „ wie das Drehbuch eines schlechten Filmes“ – sie zeigen sich überzeugt: Mit diesen Empfehlungen werde sich „der Lehrkräftemangel [...] weiter verstärken.“
Quellen:
https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2023/SWK-2023-Stellungnahme_Lehrkraeftemangel.pdf
https://www.gew.de/15-punkte-gegen-lehrkraeftemangel
https://www.vbe.de/presse/pressedienste/pressedienste-2022/standard-titel
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/lehrermangel-115.html
https://www.faz.net/aktuell/politik/portraet-die-kultusministerkonferenz-1193872.html
https://www.youtube.com/watch?v=CSCIA5FvqQo
https://www.mdr.de/wissen/burnout-bei-angehenden-lehrern-100.html
https://www.nc-werte.info/hochschule/fu-berlin/grundschulpaedagogik/
https://rentenbescheid24.de/fruehrente-fuer-lehrer/
24.02.2023