(ps) Dem berühmten britischen Schauspieler Sir Alec Guinness wird das Zitat zugeschrieben: "Vier Zeilen in einem guten Lexikon sind mehr wert als der schönste Grabstein." Der im Jahr 2000 verstorbene Mime konnte da noch nicht ahnen, dass klassische Lexika schon bald der Vergangenheit angehören sollten: Der Brockhaus, seit 1808 der Begleiter jedes bildungsbürgerlichen Haushalts, stellte seine Druckfassungen 2006 ein und wurde 2014 abgewickelt. Die Encyclopaedia Britannica aus Guinness' Heimat, die seit 1768 mindestens den gleichen Stellenwert im Vereinigten Königreich hatte, stellte 2012 den Druck ein. Damit ist eine über 200 Jahre alte Kultur der Wissensvermittlung relativ geräuschlos zu einem Ende gekommen.
Der Brockhaus steht heute eher bei Großeltern als bei Eltern, und da es ihn nun nicht mehr gibt, werden vielleicht manche jugendliche Leser*innen dieser Zeilen schnell bei Wikipedia nachgeschlagen haben, was denn dieses "Brockhaus" war. Und damit ist eines der Hauptprobleme benannt, das zum Ende der klassischen Lexika führte: Ein Lexikon ist langsam. Man muss hingehen, es in die Hand nehmen, darin blättern, und dann findet man vielleicht keinen passenden Eintrag, und wer weiß, ob alles noch aktuell ist. Wikipedia oder Google konkurrieren da mit zahllosen immer stundenaktuellen Informationen aus aller Welt.
Information ist nicht alles
Daneben boomt aber der Markt der Sachbücher für Kinder und Jugendliche. Teils regelrecht opulent gestaltete Werke zu Themen von Astronomie bis Zoologie buhlen um die Gunst der Leser*innen. Interessanterweise ist der Jugendbuchbereich zugleich auch die einzige Büchersparte, die ein gutes Wachstum verzeichnet. Die Eltern, welche die Mehrzahl der Kinder- und Jugendbücher erwerben, scheinen im Zweifel doch lieber auf von seriösen Verlagshäusern redaktionell betreutes Wissen zu vertrauen, als ihr Kind vor YouTube zu setzen. Denn Informationen gibt es wie Sand am Meer, das Problem ist nur: Nicht alle stimmen. Und wenn Ihr Kind Sie mal fragt, ob der nächste Urlaub ins Erdinnere zu den Echsenmenschen gehen könne, dann hat es vermutlich nicht Jules Verne gelesen, sondern war unbetreut im Internet.
Bei der Frage, wie Kinder und Jugendliche an Informationen kommen und mithilfe welcher Medien sie sich Wissen aneignen, lässt sich die Zeit allerdings nicht zurückdrehen. In der "Schüler-Studie zur Digitalisierung der Bildung" von 2020 gaben 99 Prozent der Schüler*innen an, das Internet für schulische Informationsrecherche zu nutzen. Dabei führten Online-Enzyklopädien wie Wikipedia mit 76 Prozent deutlich das Vertrauenswürdigkeitsranking an. Nach "analogen" Nachschlagewerken wurde gar nicht erst gefragt. Hinsichtlich der Didaktik stellt sich also inzwischen eher die Frage, ob in Zeiten der Digitalisierung an den Schulen weiterhin die Nutzung "analoger Medien" wie Sachbücher und Schülerlexika forciert werden soll.
Noch 2001 glaubte der renommierte Lexikon-Verleger Klaus Gerhard Saur vom gleichnamigen Verlag, es gäbe "auch eine Zukunft der gedruckten Lexika. Im Augenblick geht die Nachfrage nach unten, aber sie kommt wieder." Unterdessen ist auch der Saur-Verlag Geschichte, warum also das alles? Schließlich wird allenthalben nach Digitalkompetenz der Schüler*Innen gerufen, nicht erst durch, aber besonders wegen der digitalen "fake news"-Schwemme, Verschwörungstheorien und Konsorten. Warum also jetzt auf scheinbar überholte "analoge" Medien setzen? Nachdem selbst die großen Lexikon-Flagschiffe untergegangen sind, brauchen wir überhaupt noch Nachschlagewerke in Buchform?
Wissensfindung als Lernziel
"Meine Antwort ist stets ein klares 'Ja!'", schreibt die Lehrerin und Schulbuchautorin Christiane Vatter-Wittl im "Wortschatz-Blog". Sie betont die positiven Effekte der Wörterbuchnutzung im Unterricht – dabei gehe es nicht nur darum, die Rechtschreibung des gesuchten Wortes zu ermitteln. Beim "analogen" Nachschlagen werden eine ganze Reihe von Kompetenzen trainiert: "Zum richtigen und schnellen Nachschlagen" müsse man das "Alphabet im Schlaf beherrschen", was selbst nach vier Jahren Grundschule noch nicht immer der Fall sei. Bei unsicherer Rechtschreibung des gesuchten Wortes müssen die Schüler*innen selber nachdenken, wie die wahrscheinlichsten Schreibungen aussehen könnten – statt sich z.B. auf Googles Autokorrektur zu verlassen.
So wird die Wissensfindung zum Lernziel, die Schüler*innen beschäftigen sich mit dem Wort, es stellen sich Erfolgserlebnisse ein und dieser Prozeß der Suche führe dazu, so Vatter-Wittl, dass sich die Erkenntnisse "schnell und effektiv im Gehirn" verankern würden. Hinzu kommt noch ein weiterer Lerneffekt: Während die Onlinesuche zielgenau nur das findet, was eingetippt wurde, bieten Suchen in papierenen Nachschlagewerken in aller Regel Kontextwissen: im Wörterbüchern z.B. die Wortfamilien, in Lexika benachbarte Einträge. Gute Lexika geben zudem zuverlässige und vor allem: redaktionell geprüfte Quellenangaben an, die weitere selbstständige Recherche ermöglichen.
"Relevanz und Qualität"
Als das „Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft“ vor einigen Jahren erscheint, gibt die beteiligte Uni Göttingen eine Pressemitteilung heraus, in der sie schreibt: "Ein 'Papier-Lexikon' in Zeiten von Web 2.0? Heutzutage ein Anachronismus – oder doch zeitgemäß und nachgefragt?" Sie kommt zu einer klaren Antwort: "Ganz bewusst möchte der Verlag mit diesem Fachlexikon dem Wikipedia-Modell ein von Fachleuten initiiertes und im gesamten Prozess kontrolliertes gedrucktes Lexikon gegenüber stellen, da nur durch diese Form der intensiven fachlichen Zusammenarbeit die Relevanz und Qualität der Beiträge sichergestellt werden kann." Während also der häusliche Brockhaus durch Siri und Wikipedia ersetzt wurde, zählt in der Forschung nach wie vor das gedruckte Wort.
Das hat auch noch einen ganz anderen Grund, wie der Wissenschaftshistoriker Prof. Michael Hagner im Deutschlandfunk betont: "Man kann Texte löschen. Man kann Texte manipulieren von einem Tag auf den anderen. Man kann schnell was ändern, und man kann dadurch Vergangenheit unsichtbar machen. Das ist bei gedruckten Büchern nicht so ohne Weiteres möglich." Während also "das Internet" allgemein damit punktet, stets aktuell zu sein, krankt es an der Manipulationsanfälligkeit. Unliebsame "Dinge sind im Netz viel leichter kaschierbar, unterdrückbar, veränderbar, löschbar, ausradierbar. Dadurch werden Texte natürlich enthistorisiert, weil man immer nur die neueste Version hat."
Damit wird deutlich, dass trotz Wikipedia das Lernen der Nutzung gedruckter Nachschlagewerke keineswegs eine verlorene Kulturtechnik ist. Wenngleich die Alltagsnutzung auch stark zurückgegangen sein mag, bildet das gedruckte Lexikon nach wie vor das Rückgrat wissenschaftlicher Wissensvermittlung. Hiervon kann auch die Schule als Institution der Wissensvermittlung profitieren. Nicht zuletzt lernen die Schüler*innen hier quasi beiläufig, wie seriöse, gut belegte Informationen aussehen und aufgebaut sind. In Zeiten, in denen jede*r Informationen ungeprüft ins Netz stellen kann, ist dies ein wichtiges Lernziel. Gerade jüngere Schüler*innen verfügen häufig noch nicht über die nötigen Fähigkeiten, um seriöse, gute Inhalte von unseriösen Inhalten zu unterscheiden.
Digitalisierung ist nicht alles
Da nun aber 99 Prozent der Schüler*innen das Internet zur Recherche nutzen, ist es natürlich nicht zielführend, plötzlich nur noch auf gedruckte Quellen zu bestehen. Jedoch scheint es aus den genannten Gründen angezeigt, die selbstständige Nutzung von Wörterbüchern, Lexika und Fachliteratur im Unterricht spezifisch zu fördern. Schließlich muß auch zur Kenntnis genommen werden, dass die Qualität der Wissensvermittlung nicht automatisch besser wird, wenn sie digital stattfindet. Ein sicherer Umgang mit Fach- und Sachliteratur gehört ebenso zu den Lernzielen, wie ein sicherer Umgang mit der digitalen Welt. Und wenngleich "Digitalisierung" das Schlagwort der Stunde ist, sollte sie nicht zum Selbstzweck werden.
Prof. Hagner kommt im Deutschlandfunk jedenfalls zu einem positiven Fazit: "Ich versuche ja, zu argumentieren [...], dass das Digitale ganz wunderbar ist, großartig ist, aber eine völlig andere Funktion erfüllt als das gedruckte Buch. Und das es darum geht, eine Art Ökologie des Umgangs mit diesen verschiedenen medialen Typen zu schaffen, bei der man begreift, dass beide ganz unterschiedlich formiert sind und dass das eine das andere nicht substituieren kann. Dass man im Netz Sachen kann, die im Buchdruck definitiv nicht gehen, dass im Buchdruck Dinge funktionieren, die im Netz aller Wahrscheinlichkeit nach nicht funktionieren. Wenn wir es schaffen, diese Ökologie zu entwickeln, dann wird, glaube ich, alles gut."
Quellen:
https://www.wortschatz-blog.de/sind-nachschlagewerke-in-zeiten-digitaler-medien-noch-zeitgemaess/
https://www.uni-goettingen.de/de/303988.html
https://www.welt.de/print-welt/article472238/Es-gibt-eine-Zukunft-fuer-das-gedruckte-Lexikon.html
https://www.deutschlandfunk.de/zur-zukunft-des-buchs-das-digitale-erfuellt-eine-voellig-100.html