IfT: Anna, die Möglichkeit, ein FSJ zu machen, ist ja allgemein bekannt, aber du hast dich für eine etwas weniger bekannte Option entschieden – ein FSJ Politik. Kannst du uns zum Einstieg kurz erzählen, wie du auf das FSJ Politik gekommen bist?
Anna Lena Heine: Das war wie so oft im Leben purer Zufall. Um das zu erklären, muss ich ein bisschen weiter ausholen: Ich war in der 10. Klasse auf der Suche nach einem Schüler*innenpraktikum und bin dabei auf die Landeszentrale für politische Bildung gestoßen, die auch Praktika anbietet. Dort war außerdem von einem FSJ die Rede. Als ich dann letztes Jahr nach dem Abi nach einem FSJ gesucht habe, ist mir das wieder eingefallen. Dort bot man ein „FSJ Politik“ an. Ich bin dann ein bisschen stutzig geworden, weil ich das so noch nicht kannte. Man kennt ja die klassischen Angebote in der Grundschule, am Gymnasium, in der Ferieneinrichtung oder im Kindergarten. Aber von dem FSJ Politik wusste ich noch nichts und fand es sehr spannend. Ich habe dann recherchiert, worum es sich dabei handelt, und bin auf die Homepage der LKJ Niedersachsen gestoßen. Die Landesvereinigung kulturelle Jugendbildung e. V. ist der Träger, der das FSJ Politik organisiert. Die haben eine Deutschlandkarte, auf der alle Orte, an denen die FSJ Politik und Kultur angeboten werden, aufgelistet sind. Das fand ich super spannend und habe gleich gedacht, dass ich das machen möchte.
IfT: Ein FSJ Politik kann man beispielsweise auch bei politischen Fraktionen im Landtag machen, in Jugendhäusern, bei Gewerkschaften usw. Du hast dich mit der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel für ein vergleichsweise ernstes Thema entschieden. Wie bist du speziell auf diesen Träger aufmerksam geworden, und was hat dann den Ausschlag gegeben zu sagen: Hier will ich hin?
Anna: Auf die Gedenkstätte aufmerksam zu werden war für mich recht einfach, weil ich aus Wolfenbüttel komme und hier auch aufgewachsen bin. Mein Vater hat mir vor Jahren schon mal erzählt, dass er in der Gedenkstätte war und es dort sehr spannend fand. Ein Besuch stand also schon lange auf meiner To-do-Liste. Als ich dann nach einem FSJ gesucht habe, sah ich durch Zufall auf der LKJ-Seite, dass auch die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel ein FSJ-Politik anbietet. Da dachte ich gleich: Das ist ja perfekt und passt richtig gut. Und so habe ich mich dann später dort beworben.
„Ein wichtiger Punkt war, dass das Aufgabenprofil zu meinen eigenen Wünschen und Erwartungen gepasst hat.“
Ausschlaggebende Gründe für die Gedenkstätte gab es dann sehr viele. Ein wichtiger Punkt war, dass das Aufgabenprofil zu meinen eigenen Wünschen und Erwartungen gepasst hat und es genau das war, was ich machen wollte: Öffentlichkeitsarbeit, Recherche, Biografien ausarbeiten, Unterstützung bei der Betreuung von Angehörigen und Besuchergruppen, insbesondere Schulklassen. Auch den Aspekt der historisch-politischen Bildung fand ich sehr interessant, da ich später vielleicht mal in diesem Bereich arbeiten möchte. Das waren alles Faktoren, die mit in meine Entscheidung eingeflossen sind. Die Gedenkstätte an sich fand ich bereits sehr spannend, weil man über die Justiz im Nationalsozialismus in der Schule kaum etwas gehört hat. In der Schule steht das de facto nicht im Kerncurriculum [dem Lehrplan, Anm. d. Red.]. Deswegen war das ein Thema, über das ich nicht viel wusste, aber das ich sehr interessant und spannend fand. Auch weil das Regime der NS-Zeit ohne die Justiz so nicht funktioniert hätte und nicht von einer Demokratie in eine Diktatur hätte umgewandelt werden können.
IfT: Du hast es schon angedeutet, aber kannst du noch mal kurz beschreiben, was das genau für eine Gedenkstätte ist?
Anna: Es handelt sich um die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel und das übergeordnete Themenfeld ist der Justiz- und Strafvollzug im Nationalsozialismus. Der Grund, warum dort eine Gedenkstätte existiert, ist der Umstand, dass 1937 eine Hinrichtungsstätte auf dem Gelände des Strafgefängnisses eingerichtet wurde. Zwischen 1937 und 1945 wurden mindestens 526 Frauen und Männer hingerichtet. Der Großteil von ihnen wurde von Sondergerichten verurteilt, von denen allgemein bekannt ist, dass sie faktisch Unrecht sprachen.
Die Gedenkstätte erinnert an diese Opfer – auch an die politisch Verfolgten, die durch die Justiz verfolgten Sozialdemokraten, KPD-Mitglieder, aber auch rassistisch Verfolgte, religiös Verfolgte, Widerstandskämpfer aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Norwegen, die in den besetzten Gebieten Widerstand geleistet haben, zum Teil als „Nacht-und-Nebel“-Gefangene nach Wolfenbüttel gekommen sind und hier auch hingerichtet wurden. Ich finde es sehr wichtig, auch für unsere heutige Zeit, dass man reflektiert mit der Vergangenheit umgeht und eine kritische Erinnerungskultur schafft. Das ist mir persönlich sehr wichtig! Dass man aufklärt, sich mit der Vergangenheit beschäftigt und sich diesen Dingen stellt. Es ist nicht immer einfach, sich bewusst zu machen, was unsere Vorgängergenerationen da eigentlich für einen Mist gebaut haben, um es mal so auf den Punkt zu bringen.
„Wir sind die Generation, die dafür sorgen muss, dass die Demokratie auch in ein paar Jahrzehnten und hoffentlich für immer bestehen bleibt.“
Genau das sagte Fiona Schröter [Mitarbeiterin in der Gedenkstätte, Anm. d. Red.] auch mal treffend: „Die Gedenkstätte steht in einem Spannungsfeld zwischen dem, was mal war, dem, was gerade ist, und dem, was mal sein wird.“ Wir haben es in den Händen, zu entscheiden, was später einmal passieren wird. Wir sind die Generation, die dafür sorgen muss, dass die Demokratie auch in ein paar Jahrzehnten und hoffentlich für immer bestehen bleibt. Deswegen liegt mir die Arbeit in der Gedenkstätte sehr am Herzen. Allgemein finde ich an der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel das Spannungsfeld interessant, dass es sich zum Teil tatsächlich um klassische Straftäter – auch in unserem Verständnis – gehandelt hat, man aber anerkennen muss, dass auch diese Menschen Unrecht erfahren haben, dass auch diese Menschen Opfer sind und man auch dieser Menschen gedenken muss. Genau das macht die Gedenkstätte aus, und das finde ich sehr spannend. Dabei gefällt mir besonders der Aspekt der Differenzierung – es ist eben nicht alles nur schwarz oder nur weiß, sondern es gibt dazwischen immer viele Grautöne.
IfT: Was sind Deine Aufgaben als FSJ’lerin vor Ort?
Anna: Das ist eine gute Frage, weil man das zum Teil nicht genau definieren kann. Mir wurde bereits am Anfang gesagt: Wir haben kein festes Aufgabenprofil für dich, guck dir erst mal alles an und entscheide dann, was du machen möchtest. Mein Fokus liegt momentan auf der Öffentlichkeitsarbeit, vor allem auf der Veranstaltungsfotografie. Ich fotografiere privat sehr gerne und habe es daher übernommen, bei Veranstaltungen und Führungen dabei zu sein, an Workshops teilzunehmen und das Ganze szenisch einzufangen. Außerdem arbeite ich an den Beiträgen für Social Media mit, bearbeite die Bilder dementsprechend, schreibe die Texte und so weiter. Und in den letzten Wochen habe ich auch schon mal Pressemitteilungen und Ankündigungen für die Zeitung geschrieben. Weiterhin spielen Recherchen eine Rolle, was ich sehr interessant finde. So habe ich etwa letzte Woche eine Biografie über einen französischen Widerstandskämpfer aufgearbeitet. Dabei arbeitet man biografische Details der Person heraus, findet vielleicht noch Bilder, den Abschiedsbrief und solche Dinge. Zu der Recherche zählt außerdem, das Archiv zu besuchen. Auch das durfte ich schon machen. Dabei ist es von großem Vorteil, dass wir direkt in Wolfenbüttel eine Abteilung des Niedersächsischen Landesarchivs haben. Dort habe ich dann zwei Tage verbracht, die Quellen durchforstet und digitalisiert, was sehr, sehr spannend war.
Ebenfalls mit dazu gehört die Unterstützung bei der Betreuung von Besucher*innengruppen. Momentan gebe ich ja selbst noch keine Führungen, aber ich laufe bei den pädagogischen Mitarbeiter*innen mit und schaue mir das Ganze an.
„Ich darf mich austoben in den Dingen, die ich gut kann und die ich mag, und damit bin ich sehr zufrieden.“
Für mich persönlich ist ein wichtiger Punkt auch die Mitarbeit bei der Betreuung von Angehörigen. Es kommt häufiger vor, dass uns Angehörige beispielsweise aus Polen, den Niederlanden, Belgien, Frankreich und auch Deutschland besuchen. Diese begleiten wir dann, gehen mit ihnen zu den historischen Orten, besuchen die Dauerausstellung und geben ihnen biografische Details über ihre Väter, Großväter und -mütter. Ansonsten mache ich das, was anfällt. Wenn zum Beispiel eine große Veranstaltung geplant ist, hilft man, wo man gebraucht wird. Aber ich habe wirklich das große Los gezogen, weil ich keine langweiligen Aufgaben machen muss wie Sachen laminieren, kopieren oder Kaffee kochen. Ich darf mich austoben in den Dingen, die ich gut kann und die ich mag, und damit bin ich sehr zufrieden.
IfT: Welche Erfahrungen hast du damit gemacht? Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?
Anna: Eigentlich wurden meine Erwartungen sogar übertroffen! Ich darf deutlich mehr machen, als ich mir vorgestellt habe. Ein Beispiel dafür: Die Gedenkstätte ist in den Kulturrat der Stadt Wolfenbüttel involviert, und ich darf an sämtlichen Sitzungen teilnehmen – und auch was sagen, wenn ich das möchte. Das hätte ich zum Beispiel nicht gedacht. Außerdem darf ich an Ausstellungseröffnungen teilnehmen. Erst letzte Woche habe ich zusammen mit der Leiterin die neue Sonderausstellung des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braunschweig besucht. Das sind Sachen, von denen ich nicht erwartet hätte, dass ich sie als FSJ’lerin – obwohl ich noch nicht einmal drei Monate dabei bin – übernehmen darf. Ich bin wirklich in alles involviert. Zwar bin ich noch „die neue FSJ’lerin“, aber trotzdem wurde ich von allen richtig gut aufgenommen. Ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass ich bei der Betreuung von Angehörigen so sehr mit einbezogen werde. Ich bin mit ihnen in die Dauerausstellung gegangen, habe mit ihnen den Tag verbracht, geredet und bin mit ihnen Essen gegangen. Zudem habe ich kleine Rechercheaufträge von der Leiterin Martina Staats bekommen, bei denen ich zum Beispiel herausgefunden habe, wo der Angehörige beerdigt worden ist, und hatte dann die Aufgabe, mit den Angehörigen auf den Friedhof zu gehen und ihnen das eigenständig zu zeigen. Das ist tatsächlich eine sehr erfüllende Aufgabe, auch wenn es erst einmal sehr schwer ist, sich damit auseinanderzusetzen.
„Wenn die Schüler*innen begeistert an die Sache herangehen, sich dafür interessieren, macht das einfach Spaß!“
IfT: Was interessiert dich persönlich am meisten? Oder was begeistert dich am meisten?
Anna: Von den Themenfeldern interessiert mich die politische Bildung ganz besonders. Das ist auch ein Bereich, bei dem ich mir vorstellen kann, dass ich darin später beruflich tätig sein möchte. Vor allem die historische Bildung, die ich wirklich sehr wichtig finde, die Arbeit mit Schulklassen vor allen Dingen. Es zeigt sich, dass hierbei durchaus Lernfortschritte zu sehen sind. Wenn die Schüler*innen begeistert an die Sache herangehen, sich dafür interessieren, macht das einfach Spaß! Und es erfüllt einen auch. Die Öffentlichkeitsarbeit finde ich ebenfalls sehr spannend, außerdem die Recherche, die teilweise mit hinzukommt, und generell die Möglichkeit, alle Bereiche mal kennenzulernen und überall hineinzuschnuppern. Ich darf sehr selbstständig und frei arbeiten, was ich sehr mag – was aber nicht für jeden etwas ist. Die Eigenverantwortlichkeit und früh Verantwortung zu übernehmen gefällt mir gut. Natürlich nicht zu viel, aber in dem Rahmen, in dem es möglich ist.
IfT: Die Gedenkstätte bietet als außerschulischer Lernort auch Schulklassen verschiedene Bildungsangebote an. Du hast es schon erwähnt, aber kannst du noch mal konkret skizzieren, was die Schüler*innen dort machen können?
Anna: Gerne, ja! Grundsätzlich stellen wir uns auf jede Gruppe individuell ein. Wir haben kein festes Format, was wir einfach abarbeiten. Schließlich macht es einen Unterschied, ob man einen Geschichts-LK im 13. Jahrgang vor sich sitzen hat oder ob eine 9. Klasse zu uns kommt, die im Unterricht noch nie etwas zur NS-Zeit behandelt hat. Wir haben also verschieden Formate: Wir bieten Führungen durch die Dauerausstellung an, die etwa 90 Minuten lang sind, außerdem Besuche zu den historischen Orten, zum ehemaligen Hinrichtungsgebäude und zu ehemaligen Gemeinschaftshaftzellen. Ansonsten gibt es bei uns die Möglichkeit, Workshops zu besuchen. Sie sind das, was am meisten genutzt wird und am beliebtesten ist. Die Workshops umfassen drei oder fünf Stunden – oder auch ganze Seminartage. Dabei kann man gut thematische Schwerpunkte setzen, etwa zum Thema „Beitrag von Justiz- und Strafvollzug zum nationalsozialistischen Terror- und Vernichtungssystem“. Außerdem gibt es einen Workshop, der bei Religions- und Ethikkursen sehr beliebt ist: „Pro und Contra Todesstrafe“, die ja hier während der NS-Zeit vollstreckt wurde. Oder ein Workshop zum Paragraphen 175, der die Verfolgung homosexueller Männer beinhaltet. Das vielleicht als grober Einblick, es gibt aber noch deutlich mehr!
„Ein zentraler Punkt bei den Workshops ist, dass die Schüler*innen selbst aktiv werden.“
Die Methoden und der Ablauf ähneln sich dann häufig. Es gibt einen assoziativen Bildereinstieg, bei dem alle Schüler*innen zunächst die Möglichkeit erhalten, etwas zu einem Bild zu äußern. Hierbei handelt es sich um Bilder, die mit den historischen Orten oder dem Thema im weiteren Sinne zu tun haben – etwa von den Tätern, dem Anstaltsleiter, einem Richter, einem Anwalt oder von den Opfern, wie zum Beispiel Erna Wazinski. Zudem zeigen wir ein Bild von der ehemaligen Hinrichtungsstätte, dem Hinrichtungsraum. Das ist in der Regel der Einstieg. Dann schaut man sich in der Ausstellung das historische Modell der Anlage an. Das ist ein sehr großes Modell des ehemaligen Strafgefängnisses, das zeigt, wie es damals in den 1930ern aussah. Gerade bei 9. Klassen geben wir auch einen generellen Überblick zur NS-Zeit und wie die Weimarer Republik, eine Demokratie, in eine Diktatur umgewandelt wurde. Ein zentraler Punkt bei den Workshops ist, dass die Schüler*innen selbst aktiv werden. Entweder erkunden sie die Dauerausstellung selbstständig oder arbeiten an unseren Multimedia-Tischen, den sogenannten „Multi-Touch-Tischen“, die im Prinzip riesengroße Tablets sind. Dort können sich die Schüler*innen eigenständig Biografien erarbeiten. Auf den Multi-Touch-Tischen sind Dokumente wie zum Beispiel ein Hinrichtungsprotokoll, ein Abschiedsbrief oder andere relevante Geschichten und Dokumente zu einer einzelnen Person zu finden – seien es Opfer oder Täter. Diese Biografiearbeit ist ein wichtiger Schwerpunkt.
IfT: Du setzt dich in deinem FSJ ein Jahr lang intensiv mit den historischen Orten innerhalb der heutigen JVA auseinander. Und du hast auch schon erwähnt, dass vor allem die persönlichen Schicksale der damaligen Menschen im Mittelpunkt stehen. Nimmst du deine Arbeit emotional manchmal mit nach Hause, oder kannst du das trennen?
Anna: Grundsätzlich ist es mein Ziel, eine emotionale Distanz zu wahren und damit professionell umzugehen. Das ist auch das Ziel von allen anderen FSJ’ler*innen, die ich bisher kennengelernt habe und die wie ich in Gedenkstätten tätig sind. Aber es ist gleichzeitig unser Risiko – ich will es nicht „Angst“ nennen –, das wir eingehen, es eben nicht zu schaffen. Bis jetzt habe ich das große Glück, dass ich damit gut klarkomme und es recht gut schaffe, die emotionale Distanz zu wahren und es eben nicht mit nach Hause zu nehmen. Ich stelle mir dabei vor, dass ich zur Arbeit komme, die Gedenkstätte betrete und gewissermaßen von der privaten Anna, die immer noch sehr betroffen ist, zu meiner professionellen Seite wechsle und dann die FSJ’lerin bin, die eine professionelle Ansprechperson ist. Das klappt nicht immer. Es gibt auch Fälle, bei denen mir das sehr schwerfällt. Das ist vor allen Dingen bei der Betreuung von Angehörigen so.
„Die Betreuung der Angehörigen zeigt uns, wie wichtig unsere Arbeit ist.“
Erst vor ein paar Wochen haben uns Angehörige aus Polen besucht. Eine 87 Jahre alte Dame war dabei, deren Vater in Wolfenbüttel hingerichtet wurde. So eine Dame vor sich sitzen zu haben und ihr zu erzählen, was die Deutschen damals verbrochen haben und was mit ihrem Vater geschehen ist – und dann zu sehen, wie sie emotional gerade sehr kämpft –, macht was mit einem. Das ist nicht einfach, und auch jetzt fällt es mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber es wird leichter, denn die Betreuung von Angehörigen zeigt uns, wie wichtig unsere Arbeit ist. Wir sind dann mit der Familie zum Friedhof gegangen, ich hatte die Grabstelle recherchiert. Die Familie zu sehen, wie sie Abschied nimmt und die ältere Dame sich dann rührend bedankt und sagt, wie wichtig ihr das war und wie toll sie unsere Arbeit findet, war sehr bewegend und hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, sich täglich mit solchen schweren Schicksalen auseinanderzusetzen – und dass man das weitermachen sollte. Am Ende hat sie uns dann wirklich noch in den Arm genommen. Das sind eben die beiden Seiten unserer Arbeit: Manchmal ist sie sehr aufrührend, aber im gleichen Zuge auch sehr erfüllend, wenn man mit solchen Menschen direkt sprechen kann.
IfT: Ein einhelliges Urteil eigentlich aller, die Freiwilligendienste absolviert haben, ist, dass sie in dieser Zeit viel über sich selbst, über ihre Stärken und Schwächen gelernt haben. Du steckst noch mitten in dieser Erfahrung, aber trotzdem die Frage: Siehst du das auch so? Hast du im Laufe des FSJ schon Dinge über dich gelernt, die dir vorher vielleicht nicht so klar waren?
Anna: Ja, das ist tatsächlich so! Mir war von Anfang an klar, dass ich politische Bildung sehr interessant finde und sie vielleicht ein Berufswunsch für mich ist. Ich habe aber schon in den paar Monaten bemerkt, dass auch die Gedenkstättenarbeit etwas für mich wäre. Das ist ein Bereich, den ich sehr spannend und wie gesagt auch erfüllend finde – was mir vorher nicht bewusst war, weil ich diesen Bereich nie richtig auf dem Schirm hatte. Natürlich reflektiert man auch seine Stärken und Schwächen. Zum Beispiel von der Chefin gelobt zu werden und gesagt zu bekommen, wie toll die Arbeit war – also Wertschätzung zu erfahren –, ist nicht nur für einen selbst schön, sondern hilft auch bei der beruflichen Orientierung. Ansonsten bin ich ja noch recht am Anfang. Aber ich denke schon, dass die Erfahrungen im Laufe des Jahres im Bereich Persönlichkeitsentwicklung noch einiges mit mir machen werden.
IfT: Was würdest du Schüler*innen raten, die sich jetzt auch für ein FSJ Politik interessieren?
Anna: In Schlagworten ausgedrückt: Reflexion und Information! Also dass man reflektiert, was man eigentlich möchte: Wo sind die eigenen Stärken, die eigenen Schwächen, was sind die eigenen Wünsche, was ist die Motivation, überhaupt ein FSJ zu machen? Das finde ich sehr wichtig. Aber auch zu reflektieren: Was brauche ich eigentlich für ein Aufgabenprofil, was möchte ich machen? Und dann genau zu vergleichen, was mir die Einsatzstelle vorgibt, was ich dort machen soll und auch, wie flexibel die Einsatzstelle ist. Hier in der Gedenkstätte ist die Arbeit zum Beispiel sehr flexibel. Mir wurde direkt gesagt: Probier dich aus, mach, was dich interessiert, wir zwingen dich zu nichts. So etwas sollte man in Erfahrung bringen. Und zum Punkt der Information: Es ist wichtig, dass man sich genau über die Einsatzstelle informiert – darüber, was sie so tun, was sie für Angebote bieten, was sie für Veranstaltungen organisieren. Gerade im Bereich Stiftungen und Parteien ist es auch relevant, sich zu überlegen, ob das mit den eigenen Werten zu vereinbaren ist. Als einfaches Beispiel: Wenn man politisch eher links eingestellt ist, dann sollte man sich fragen, ob man bei der Konrad-Adenauer-Stiftung gut aufgehoben ist. Das kann zwar auch sehr gut funktionieren, aber man sollte vorher darüber nachdenken.
Im Bereich der Gedenkstätten muss man sich überlegen, ob man das kann. Ob man diese emotionale Distanz wahren kann, oder ob man sich überhaupt ein Jahr lang mit diesen schweren Themen auseinandersetzen möchte. Im Endeffekt erfährt man es immer erst, wenn man es ausprobiert – aber es ist natürlich trotzdem sinnvoll, sich vorab darüber Gedanken zu machen. Und noch ein Tipp: Besucht die Einsatzstelle vorher! Das ist eigentlich total simpel, aber man sollte es auf jeden Fall machen. Wenn ihr in einem Museum oder einer Gedenkstätte anfangen möchtet, dann besucht diesen Ort! Schaut euch die Gegebenheiten an, die Ausstattung, wie das Gebäude konzipiert ist. Schaut euch die Anbindung an, also wie weit die Einsatzstelle vom Wohnort entfernt ist. Ob man in der Mittagspause vielleicht mal etwas zu Essen kaufen kann, oder ob man mitten in der Pampa sitzt. All das sollte man im Voraus in Erfahrung bringen. Außerdem kann man bei einem Besuch schon die Leute kennenlernen, sehen, wie viele da arbeiten, und auch schon gucken, ob es zwischenmenschlich passt, weil man dort eben ein Jahr verbringen wird. Für mich ist es sehr relevant, dass ich in einem Umfeld arbeite, in dem ich mich wohlfühle. Also: Was will ich, was kann ich, was bietet mir die Einsatzstelle?
IfT: Vielen Dank für das Interview!
13.02.2024