„Die Generation, die hier zur Debatte steht, hat quasi nur Krisen erlebt.“ Das sagt Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, die die Studie mit in Auftrag gegeben hat. Und in den letzten vier Jahren seit der vergangenen Studie kam es besonders dicke: zuerst grätscht Corona der befragten Gruppe in die Kindheit und den Beginn ihrer Jugend, und kaum das die Coronakrise sich dem Ende näherte, stößt Russland Europa in einen Krieg, der bis heute andauert. Und wie ein Basso continuo ist das alles unterlegt vom Klimawandel, der zunehmend dramatischere Folgen zeitigt, ohne dass die Politik darauf angemessen reagieren würde – und es somit versäumt, die Zukunft der Kinder zu schützen.
Anfänge eines neuen Biedermeier?
Vor diesem Hintergrund könnte man mit einer desillusionierten, hoffnungslosen Jugend rechnen. Doch dieser Punkt ist noch nicht erreicht: so habe sich laut Tim Gensheimer, Mitautor der Studie, der „Hedonismus“ unter den Jugendlichen seit der letzten Studie merklich verringert und entspreche „keineswegs dem Klischee der verwöhnten Jugend mit sehr unrealistischen Ansprüchen“, betont er im Deutschlandfunk. Vielmehr seien die Jugendlich von „Realismus und Bodenhaftung“ geprägt.
Ein großer Wunsch der Jugendlichen sei es, einfach einen Platz „in der Mitte der Gesellschaft“ zu finden, sie träumen von Partnerschaft, Ehe, Kindern, Haustieren und einem auskömmlichen Lebensunterhalt. Es sind also nicht (mehr) die großen, ich-bezogenen Selbstverwirklichungsträume: „Die befragten Jugendlichen betonen durchweg, wie wichtig ihnen soziale Werte im Leben sind – vor allem Familie, Freund*innen, Vertrauen, Ehrlichkeit und Treue.“ Damit komme das Bedürfnis nach „sozialer Geborgenheit, Halt und Orientierung zum Ausdruck.“ Damit folgen die Jugendlichen dem für Krisenzeiten gängigen Reflex, sich an traditionellen, familienorientierten Lebensentwürfen festzuhalten.
Gleichwohl zeigt sich damit keine Hinwendung allein zu konservativen Vorstellungen. Es gibt eine starke Betonung sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit für alle – bspw. die sexuelle Orientierung und der Umgang mit der LGBTIQ*-Community ist von Akzeptanz und dem Wunsch, jede*r möge sich hier ausleben, wie er*sie wolle, geprägt. Altruistische Werte wie „Hilfsbereitschaft, Toleranz und Empathie“ seien für die Jugendlichen erstrebenswert.
Lernort Schule
Auch die Schule als einer der zentralen Lebens- und Alltagsorte der Jugendlichen wurde genauer beleuchtet. Hier zeige sich, dass sich viele Schüler*innen dort zwar allgemein wohl fühlen, jedoch haben sie durchaus Kritikpunkte: Dazu zählen „Überforderung, Konflikte, Diskriminierung und Mobbing, mangelhafte Ausstattung der Schule und überforderte Lehrkräfte.“
Besonders sticht hierbei die Wahrnehmung der Chancengleichheit hervor. Die von zahlreichen unabhängigen Stellen wie bspw. der OECD verbriefte Tatsache, dass das deutsche Schulsystem mit Blick auf die Chancengleichheit versagt, nehmen auch die Schüler*innen selbst deutlich wahr. Zwei Drittel der befragten Jugendlichen gaben an, dass es in Deutschland „keine gleichen Bildungschancen für alle gibt.“ Zu den am häufigsten genannten Gründen zählen Migrationshintergrund, familiärer Hintergrund, Einkommen, Wohnort/Wohnverhältnisse, aber auch: Lehrer*innen. Bei letzteren wird v.a. Sympathie und Lehrstil betont.
Interessant ist auch die Wahrnehmung der Jugendlichen bezüglich der Partizipationsmöglichkeiten im Schulkontext. Hier werden schon seit geraumer Zeit mit Blick auf die Demokratieförderung Verbesserungen angemahnt, um die Schüler*innen möglichst früh auch praktisch vom Wert der Demokratie zu überzeugen. In der Studie zeigt sich jedoch, dass Partizipation für die Schüler*innen ein „wenig vertrautes Konzept“ sei. Mitsprachemöglichkeiten gebe es nur „punktuell“, und wenn, dann müsse sie entweder von der Lehrkraft ermöglicht oder von den Schüler*innen aktiv eingefordert werden – verstetigte Prozesse gibt es hier kaum.
Zu den häufigsten Partizipationsmöglichkeiten zählen die Mitgestaltung oder -entscheidung bei Klassenausflügen, Klassen- und Schulfesten u.ä. Viele Schüler*innen seien aber überhaupt froh, wenn sie ihre Meinung offen in der Klasse äußern können – viele fühlen sich dabei jedoch „unzureichend gehört“. Positiv hervorgehoben werden hier „feste Formate wie Klassenstunden, in denen akute Probleme angesprochen werden können und mithilfe der Lehrkraft eine gemeinsame Lösung gesucht wird, oder Feedbackboxen für anonyme Rückmeldungen zum Unterricht an die Lehrer*innen.“ Auch werde es von den Jugendlichen als sehr positiv wahrgenommen, wenn sie bspw. über das nächste Buch für den Unterricht mitbestimmen dürfen oder auch über Unterrichtsthemenblöcke. Allgemein zeige sich, dass sie Zufriedenheit der Schüler*innen merklich steigt, wenn an der Schule Partizipation wirklich gelebt wird – und der Wunsch nach mehr Partizipation durchaus groß ist.
Noch überwiegt der Optimismus
„Die Krisen stapeln sich, und die Jugendlichen bewahren sich den Bewältigungsoptimismus, das ist erstaunlich“, findet Studienmitautor Marc Calmbach. Trotz diverser Sorgen und Probleme, die in den einzelnen Untersuchungsfeldern zutage treten, gebe es insgesamt betrachtet eine positive Grundstimmung: so seien 84 Prozent der Befragten Jugendlichen zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrem Alltagserleben.
Die Studie:
Weitergehende Informationen zur Sinus-Studie finden sich auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Hier gibt es auch einen Link zur vollständigen Studie.
Weitere Quellen:
DLF: „Die Jugend ist „Aware“, aber nicht „Woke“: www.deutschlandfunk.de/aware-aber-nicht-woke-sinus-jugendstudie-dlf-d22b56fa-100.html
DLF: „Ohrfeige für das deutsche Bildungssystem“: www.deutschlandfunk.de/oecd-bildungsbericht-schulabschluss-bildungsgerechtigkeit-100.html
RBB: „Jugendliche sind besorgter und fühlen sich machtlos gegenüber anhaltenden Krisen“: https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/06/sinus-jugendstudie-wie-ticken-jugendliche-sorgen-klima-berlin.html
(ps) 12.06.2024