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Studienperspektiven

Geisteswissenschaften – eine brotlose Kunst?

Junge Frau liest vor einem Bücherregal stehend. Bild von Freepik.

Von der MINT-Förderung hört man ständig und überall. Doch mindestens ebenso wichtig – und vielleicht für die Gesellschaft sogar noch wichtiger – sind die Geistes- und Kulturwissenschaften. Wir haben einen Blick auf das Studium und die Karrierechancen geworfen.


Was sind eigentlich Geisteswissenschaften?
 

Die Geisteswissenschaften sind gewissermaßen der Ursprung und Anfang aller modernen Wissenschaften, die wir heute kennen. In der Antike waren es Themen wie Philosophie oder Geschichte, mit denen Fragen und Antworten über die Welt, den Menschen, das Menschsein und das Denken entwickelt wurden. Damals stellten die Philosophen übrigens auch Fragen der Mathematik und Naturwissenschaft – diese sind als Fächer erst viel später aus der Philosophie heraus entstanden. Auch die ersten Vorläufer der heutigen Universitäten waren in der Antike die Schulen der Philosophen, in denen kritisches Denken, Argumentationstheorie, Rhetorik und vieles mehr gelehrt wurde.

Im Laufe der Jahrhunderte, und vor allem seit der Etablierung des modernen Universitätswesens, haben sich aus diesen Anfängen eine Reihe weiterer Fächer gebildet, neben Geschichte und Philosophie etwa die Philologien (Sprach- und Literaturwissenschaften), Theater-, Kunst- und Musikwissenschaften, Ethnologie und auch die Pädagogik. Geisteswissenschaften befassen sich also mit den Phänomenen bzw. Erzeugnissen und Bedingungen der menschlichen Kultur, mit Fragen danach, wie wir überhaupt zu Erkenntnissen gelangen können, ob es Wahrheit gibt oder wie wir über die Welt sprechen (können).

Heute werden all diese Fächer unter dem Begriff „Geisteswissenschaften“ zusammengefasst und finden sich an den Universitäten an der Philosophischen Fakultät. Immer häufiger ist auch von den „Kulturwissenschaften“ oder „Geistes- und Kulturwissenschaften“ zu lesen. Hierbei handelt es sich weitestgehend um die gleiche Fächergruppe – wer sich als Kulturwissenschaftler*in versteht, der*dem geht es meist um einen interdisziplinären (fächerübergreifenden) Ansatz, der verstärkt auf  praktische kulturelle und gesellschaftliche Fragen fokussiert. Ein gutes Beispiel ist das schon vor einigen Jahren durchgeführte Projekt „KlimaKultur“ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Hier wurde der Klimawandel nicht wie üblich von den Naturwissenschaften beforscht. Stattdessen wurde der Frage nachgegangen, wie wir als Gesellschaft mit dem Phänomen „Klimawandel“ umgehen, wie darauf reagiert wird und was es mit uns macht.

Warum Geisteswissenschaften?
 

Schön und gut, mag sich manche*r nun denken, aber brauchen wir das wirklich? Sind nicht Medizin, Informatik, Ingenieurswesen oder Naturwissenschaften heute viel wichtiger? Ohne Zweifel sind dies alles wichtige Fächer. Jedoch kann keines davon leisten, was die Geisteswissenschaften leisten können: die Welt zu verstehen, zu erklären, und Wege aufzuzeigen, die uns als Gesellschaft weiterbringen. Prägnant hat es die Musikwissenschaftlerin Prof. Christiane Wiesenfeldt in einem Gastbeitrag in der FAZ formuliert: sie betont, „dass der rasanten technischen Entwicklung kulturelle und gesellschaftliche Reflexionen zur Seite stehen müssen, damit die Menschheit nicht sozial kollabiert“ – und dies sei die genuine Leistung der Geisteswissenschaften.

Ähnlich beschreibt es auch die Kulturwissenschaftlerin Prof. Ruzana Liburkina: „Was Menschen tun und wie sie Welt gestalten, lässt sich nicht mit Regeln oder Zahlen erklären“, sagt sie. „Deshalb wird im Zusammenhang mit vielen grundlegenden und komplexen Problemen unserer Zeit der Ruf nach geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung laut, die eben dieser Diversität und Unwägbarkeit gerecht wird – sei es rund um den Klimawandel oder die Digitalisierung.“

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Julika Griem sagt über das Studium der Geisteswissenschaften im Magazin Spiegel: „Es geht in diesen Fächern eher nicht darum, schnell möglichst viele Klausuren zu absolvieren und die Uni als einen Service zu nutzen, um zügig einen erfolgreichen Job zu bekommen. Ich sollte mir überlegen, ob ich studiere, um irgendwann viel Geld zu verdienen und coole Urlaube machen zu können, oder ob mich noch andere Fragen interessieren.“ Denn: „Geisteswissenschaften helfen uns, viele komplexe Probleme besser zu verstehen, und Fragen anders zu stellen.“ 

Das gilt nicht nur für die Themen der Geisteswissenschaften, sondern auch für die Geisteswissenschaftler*innen selbst. So sagt uns Miriam, die an der University of Cambridge in England studiert, dass ihr Studium sie auch persönlich weiterbringt: „Weil die Geisteswissenschaften mich auffordern, genauer hinzusehen, mich nicht mit oberflächlichen Erklärungen zufrieden zu geben, sondern diese stattdessen zu hinterfragen. So lerne ich nicht nur, gesellschaftliche Zusammenhänge zu begreifen, sondern auch, mich selber als Individuum, das in diesem gesellschaftlichem Kontext existiert, besser zu verstehen.“

Die Leistungen der Geisteswissenschaften beschränken sich also längst nicht nur auf die Forschung. Und auch die Wirtschaft entwickelt ein verstärktes Interesse an den Perspektiven und Problemlösungsfähigkeiten der Geisteswissenschaftler*innen.

Was zeichnet das Studium aus?
 

Das geisteswissenschaftliche Studium als solches bietet viele Freiheiten. Anders als bei den häufig „verschulten“, nach klaren Plänen aufgestellten und klausurlastigen MINT-Studiengängen, haben die Studierenden der Geisteswissenschaften meist einen flexiblen Stundenplan, den sie sich selber wählen können. Sie können sich das ganze Studium über auf ihre eigenen Interessenschwerpunkte und Themen konzentrieren – es gibt nur ein paar allgemein verpflichtende Einführungsvorlesungen und –seminare. Zu allen Themenblöcken die im Studium vorkommen gibt es in aller Regel mehrere Vorlesungs- und Seminarangebote, aus denen frei gewählt werden kann. Klausuren gibt es zwar auch, aber deutlich häufiger sind Hausarbeiten, in denen man sich ebenfalls die Themen (natürlich in Absprache mit der Lehrkraft) selbst wählen und eigenständig bearbeiten kann. So sieht es auch der Student Jonathan, der in Hamburg gerade sein Studium der Historischen Musikwissenschaften beginnt: „Jetzt freue ich mich auf ein sehr freies Studium, bei dem zwar viele Hausarbeiten warten, das aber auch ein hohes Maß an Freiheit und individuellen Vertiefungsmöglichkeiten bietet.“

Berufsperspektiven mit Geisteswissenschaften
 

Anders als bei vielen anderen Studiengängen münden geisteswissenschaftliche Fächer meist nicht in gleichnamige Berufe. Während der Medizinstudent Mediziner wird und die Informatikstudentin Informatikerin, werden Studierende der Geschichte oder der Philosophie nur Historiker*innen oder Philosoph*innen, wenn sie an der Uni bleiben und in die Forschung gehen. Das kann erstmal verunsichern, weil zum Studienbeginn – klammert man das Lehramt mal aus – oft noch nicht ganz klar ist, wohin die Reise gehen wird. Auf der anderen Seite bedeutet das aber auch: die Möglichkeiten, sich einen Beruf zu wählen, sind groß und die Bereiche, in die man gehen kann entsprechend vielfältig.

Ganz klassische Berufe für Geisteswissenschaftler*innen finden sich an Museen, Gedenkstätten und Kultureinrichtungen aller Art. Prof. Griem weist im zitierten Interview mit dem Spiegel, das Anfang des Jahres stattfand, darauf hin, dass beispielsweise „die deutschen Museen dringend Personal suchen.“

Ebenso klassisch ist das Lehramtsstudium – Lehrkräfte werden allerorten händeringend gesucht und entsprechend gut sind die Berufsperspektiven. „Nicht nur für die MINT-Fächer, sondern auch in Deutsch, Religion, Musik und Kunst“, wie Griem betont.

Viele Geisteswissenschaftler*innen finden sich ferner im Journalismus, aber sie gehen auch „in Personalabteilungen, ins Wissenschaftsmanagement […] die Politikberatung und die Weiterbildung“, so Griem. Auch Kulturmanagement oder der öffentliche Dienst steht den Geisteswissenschaftler*innen weit offen.

Vermehrt finden sich Geisteswissenschaftler*innen aber auch in Berufsfeldern, in denen man sie traditionell eher nicht erwarten würde. So schreibt das Würzburger StartUp „D2 - Denkfabrik Diversität“ eine Erfolgsgeschichte in der Unternehmensberatung, mit Kunden „wie Borussia Dortmund, den Deutschen Sparkassenverlag oder die Bayerische Polizei.“ Auch beim renommierten Beratungsunternehmen Roland Berger sind Geisteswissenschaftler*innen gern gesehen.

Solche eher untypischen oder unerwarteten Karrieren sind inzwischen gar nicht so selten. Schon 2019 berichtete der Deutschlandfunk: „Theologe bei McKinsey, Soziologin in der Bertelsmann Gruppe oder Ethikexperte bei Daimler. Es gibt sie durchaus, Geisteswissenschaftler, die quer einsteigen. Die gesucht und gebraucht werden“. Dies zeigen auch die Ergebnisse einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft: „In dem Maße, wie die Digitalisierung Einzug hält in die Unternehmen und Produktionsprozesse und organisatorische Entscheidungen stark automatisiert ablaufen, braucht man mehr und mehr Leute, die diese technischen Prozesse abteilungsübergreifend erklären können. Die bei ethischen Fragen – denken Sie nur an selbstfahrende Autos – Reflexion reinbringen, die so ein bisschen über den rein technischen und kaufmännischen Horizont blicken können“, sagt die Studienleiterin Christiane Konegen-Grenier dem Deutschlandfunk.

Wege in die Wirtschaft für Geisteswissenschaftler*innen
 

Wer sich für Karrieren außerhalb der klassischen geisteswissenschaftlichen Berufe interessiert, sollte frühzeitig Erfahrungen sammeln und Kontakte knüpfen. Das gilt natürlich auch für Studierende, die bspw. im Museum oder anderen klassischen Berufsfeldern arbeiten wollen – ist aber für den Einstieg in die Wirtschaft nochmals wichtiger. So sind Praktika oder Volontariate in den Semesterferien sehr zu empfehlen, sowohl um Berufsperspektiven auszuloten, als auch um Kontakte herzustellen. Sehr empfehlenswert sind zudem Auslandserfahrungen, sei es in Form eines Auslandssemesters oder eines Praktikums im Ausland.

Die wichtigste Frage ist letztlich: Worauf hast du Bock? Wenn du ein Berufsziel hast, dann probier’ dich aus, mach’ Praktika, setze Schwerpunkte – dann wirst du deinen Weg als Geisteswissenschaftler*in sicher finden.


Weitere Informationen zu zahlreichen Studiengängen findest du in unserer Suchbörse, auf unseren Messen sowie auf unserer digitalen Berufswahlmesse am 13. November 2024!

 

 

Quellen:

Business Insider: Lisa Dittrich: „Keine „08/15 Berater“: Welche Profile die Unternehmensberatung Roland Berger sucht – und was ihr dort verdienen könnt“, auf: www.businessinsider.de/karriere/jobs-bei-roland-berger-diese-profile-werden-gesucht/ [Bezahlinhalt]

Deutschlandfunk: Katrin Sanders: „Unternehmen suchen Geisteswissenschaftler“, auf: www.deutschlandfunk.de/studie-zu-jobchancen-unternehmen-suchen-100.html

Frankfurter Allgemeine Zeitung: Christiane Wiesenfeldt: „Die Kunst des Lobens“, auf: www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/wissenschaftliche-gutachten-die-kunst-des-lobens-19872902.html [Bezahlinhalt]

Spiegel: Veronika Silberg: „»Ein Bedarf an Experten kann über Nacht entstehen«“, auf: www.spiegel.de/start/geisteswissenschaften-warum-germanistik-und-philosophie-relevant-sind-und-wer-es-studieren-sollte-a-a8bd0cb1-d5fa-4631-9698-b4b69aab5d06

Uni Hamburg: Ruzana Liburkina: „Was Menschen tun und wie sie Welt gestalten, lässt sich nicht mit Regeln oder Zahlen erklären“, auf: www.uni-hamburg.de/newsroom/campus/2024/1001-neuberufene-liburkina.html

Uni Würzburg: „Geisteswissenschaft trifft auf Gründergeist: Die Erfolgsgeschichte des Würzburger Startups D2 - Denkfabrik Diversität“, auf: www.uni-wuerzburg.de/en/news-and-events/events/detail/news/geisteswissenschaft-trifft-auf-gruendergeist/

 

17.10.2024

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